TRAUMREISE

Eine neue Einsamkeit ist mir aufgegangen. Mein Traum ist ausgezogen, wohnt neuerdings wie die Reichen am Poppelsdorfer Weiher und fährt ohne mich nach Prag, nach Padova und Palermo oder übers Wochenende nach Paris, um Aperitifs und Luxushotels zu probieren, in Straßencafés zu sitzen und vorm Louvre Selfies zu verschicken.

Ich bleib allein zu Haus. Wird er je wiederkommen – oder wird er immer weiterreisen, ganz weg von seinem neuerlichen Dasein, von Stadt zu Stadt, bis er ganz und gar vergangen ist und aufgehoben in einem Traum von Bild?!

Und ich war doch so naiv gewesen zu glauben, dass es für immer sein würde zwischen uns – aber so sind die Träume! Sie belügen uns und betrügen uns mit ihren Träumereien und sind sowieso auf und davon, bevor der nächste Morgen graut.

LETZTE BOTSCHAFT

„Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern.“ Rainer Maria Rilke, Grabinschrift

Der Schatten eines Engels fiel auf mich dieser Tage, während ein später Sonnenstrahl gegenüber zerstreut auf den müden Fassaden spielte, die wegschauten, als wäre nichts weiter zu sagen –

nur dieses plötzliche Verlangen, Lust, Niemandes Schlaf zu sein – hinter so vielen herabgelassenen Rolläden; in so vielen vergessenen Zimmern…

Dieser zugeschnürte Karton voll halbvergilbter Briefe unterm Bett war ich. Die letzte Botschaft ging verloren; der Schatten zog weiter.

Foto: Straße in der Bonner Südstadt

Foto: Straße in der Bonner Südstadt

BEWEISAUFNAHME

Fallbeschleunigung –
ja: Vollbeschleunigung
ist angesagt
wegen Zeitnot am Boden.

Das Ende ist sicher,
soviel weiß man.
Der Ausgang bleibt verschlossen,
der Richterspruch offen.

Am Anfang war nur ein Verdacht,
der sich erst unter Gravitation
zur Gewissheit von Existenz verdichtete.
Den endgültige Beweis deiner Schuld liefert die Welt!

Doch nicht erst oder nur du,
selbst schon die Himmelskörper spinnen,
indem sie sich um eine Achse drehen,
der man ausgeliefert ist.

Die Achse ist der Dreh der Natur, der bewirkt,
dass der Einzelfall schräg gelagert ist,
und dass es Jahreszeiten gibt in der Welt;
und dass sich alles immer nur um das Eine dreht …

Und dass wir das Eine,
wonach wir suchen,
nicht finden.
weil das Geheimnis in der Achse ruht.

NACHT

ich seh den Weg im Dunkeln
und komme nicht recht voran
die Nacht enthält wie ein Gespenst den Floh Gedanken
die Bastille stürmt der Krieg greift an
damit er Furchen ziehen kann

alles halb offen gelegt wie ein Blatt Karten
das einem eingeschlafenen Spieler aus der Hand gefallen ist
auf einem Gemälde von Rembrandt
die Nacht deckt es bald wieder zu

INNERE AUSWANDERUNG

Im Lauf der Zeit geht sie verloren und kehrt allein in sich zurück.

Ich liege auf meinem Sofa, und auf meinem Nabel steht das winzige Sofa des Selbst, das herauslugt. Im Radio Tonscherben vom Cembalo, und noch ein Getöse von Edgar Varese … Musik ist noch eine Seele, die man von innen hört.

Die innere Stimme trat von außen an uns heran.

Die Nacht tritt allein zu dir ein und ist sogar unbewaffnet. Allenfalls eine kleine weiße Katze mit einem schwarzen Ohr, die aus der Nachbarschaft durch den Garten auf die Mauer und über den Balkon zu Besuch kommt wie ein Bild der Nacht, neugierig auf dich.

Bilder der Nacht … unter den Truppen der Erinnerung Strandgut eines Meeres, das deine Füße umspült …

Ein Vorgang wiederholt sich ohne erkennbar zu werden. In seiner Wiederholbarkeit liegt das Geheimnis flüchtiger Struktur als stumme Botschaft unentzifferter Zeit, das Rätsel der Identität in selbstumkreisendem Widerspruch, das im Spiegel ein Rad erkennt;

und eine Tür bleibt offen, und eine Brise vom Meer weht herein. Du spürst wieder Salz auf der Zunge, und jemand tritt leise heran und legt dir fast die Hand auf die Schulter. Wir bleiben stumm zurück wie eine Schrift.

Ich bin eine sprechende Tapete, die ihre Mauer liebt.

Das System hastet vorüber in fahriger Euphorie. In serieller Befriedlichkeit abgezählter Zahlungsempfänger sitzen sie in Verkehrsmitteln, portable Beichtstühle am Ohr.

Szenen zum Überholen in monotoner Reihe … der Knopf in jedem zweiten Ohr ist echt – immerhin.

Der Bediener aber wird von dem Bedienfeld bedient, das er bedient.

Die Haltestelle spuckt mich aus – ich bin auf dem Mond! Ich bin bei Euch angekommen: in den hängenden Gärten des Internet findet die öffentliche Versteinerung des Sachverhalts statt – Millionen sind gekommen; so wie ich hier bin, der Gegenspieler: Narr zu sein.

Schwarze Münze des Wahnsinns – wir zählen dich täglich!

Meine Worte sind taub. Sie wollen nicht verstehen,
was längst Gewohnheit ist –
das Wort führt Klage gegen sich!

Wer wollte die Gottesfurche ausbügeln?
Die Banane des Fortschritts pflücken, statt sie immer höher zu hängen?

Verreckte Gnaden seh ich hinter jeder Tür…

Die Marionette der Autonomie.
Die Narzisse des Altruismus.
Das Zäpfchen der Erleuchtung.
Die Kloake des Humanismus.
Die Geschlossene der Freiheit.

Der Leichengestank aus dem Eintopf letzter Wahrheiten enthält zum Trost der Suchenden Lachgas.

Kein Traum ist der Tod.

Ich liege auf meinem Sofa, und auf meinem Nabel steht das winzige Sofa des Selbst, das sich ausruht. Zum Tag des offenen Grabens zärtliche Gefühle?

Dadurch wird es nicht besser, das kann ich Ihnen sagen. Reicht nicht ein Schwein allein, müssen es zwei sein oder ein ganzes Magazin. Du sollst nicht Ruhe finden in dir, und umsonst wirst du um Gnade winseln und stöhnen.

Wir verrechnen die toten Ideen und sind der Rest unterm Strich.

STERN

Den Vollmond schauen,
wenn er gegen Mitternacht im Süden fern erblüht in seinem Schimmer über den Dächern und der Kirchturmspitze,

heißt ihn zu spüren wie eine fernere Abwesenheit jenseits des
Bildhorizonts – denn unter deinen Füßen Richtung Norden
iegt dein Stern.

Und wessen Abglanz sind wir?
Wer bist du hinter dem letzten Horizont – Licht meiner Seele?
Wer bist du, liebste Trauer?

Unter dem silbernen Mond heute Nacht stand die Tür zur Grabkammer offen.

JENSEITS VOM FENSTER

Im metabolischen Bereich meiner Wahrnehmung bilden der strahlende Aprilnachmittag vorm Küchenfenster, das Vogelgezwitscher draußen und das vierfach über Kreuz verkreuzte schwarze Aufstellgitter auf meinem weiß emaillierten alten Gasherd zusammengenommen eine überfahrene kleine weiße Katze mit schwarzer Schwanzspitze und einem schwarzen Ohr auf einem Parkplatz in Tucson/AZ im Februar 1990, die jetzt wieder, auf meinem Unterarm liegend, leise schnurrt, während ich aus dem Fenster schaue und sie gedankenverloren mit der Rechten kraule, bevor ich wieder aufwache und mich abdrehe und das Radio einschalte und mir trotzdem erst noch mal eine drehe. ‎

Shakespeare

Und Griebenschmalz
Gesalzen
Das rohe Fleisch
Ein Aushauchen durch Zwiebelringe
Die letzte Rose
Verblutend
Der Schädel unterm Arm
Noch zähneknirschend

Wir trinken die Zeit aus irdenen Krügen
Kaufen 22 Tode auf dem Weihnachtsmarkt
Und schauen noch nicht
Bis auf den Grund

ELI

Stoß die Tür auf!
So wie heute abend hier an der Theke hast du mich so oft warten lassen.

Hinter mir, im Schankraum versammelt, sitzt er wieder –
über Schaumkronen waberndes Hochtrabendes labernd.
Meist schimpft er, weiß alles besser; und manchmal lacht er,
als hätte er sich selbst dabei beobachtet:

Der Gnom im Herzen des Genoms, der Mensch, beim Bier.

Um dem an sich Abwesenden zu begegnen, bleibt man besser allein. Du würdest die Türe aufstoßen, und wir säßen zusammen am Tresen und stießen an, während die Zeit auf Zehenspitzen hinter uns vorüberginge, und wären ein einziges Lachen,
bis der Atem ausgeht,

Amen.