WITZLOS

Witziger werden wäre mir wichtiger als Wichtiges zu erzählen in Zeiten von Corona; man hätte eh nichts Wichtigeres zu erzählen als lauter Corona, trägt Maske und hat auch nichts anderes zu lachen außer der Wirklichkeit; drum geh ich aus.

Der Autoverkehr stinkt wieder im Schritt neben mir her über die Brücke. Beißt auf die Trense, schaut mich schräg von der Seite an und hat etwas Verschlagenes im Blick. Jenseits der Brücke, den Ring entlang, trennt uns schon eine Reihe besorgter Linden voneinander, aber erst, wenn man am Frankenbad rechts abbiegt, wird es ruhiger.

Jetzt ist man in der Altstadt: statt nur Autos und Verkehr begegnen einem hier auf der Straße auch richtige Menschen. In der Bonner Altstadt ist man gern zu Fuß unterwegs; hier hat man Zeit. Am alten Platz zwar heute nur eine Handvoll der üblichen Verdächtigen – Basti mit seinem Hund, die Frau mit dem christlichen Sendungsauftrag, der eingedellte Alte in seinem Rollstuhl, die lahme Flaschensammlerin aus Sri Lanka, die mich immer drängt, schneller zu trinken, und dabei still in sich hineinlacht, Ralph, der mir jetzt erzählt, dass Franz tot ist. Franz, der Bayer, der gute – ich bin bestürzt und weiß auch gleich: der hat ja fast so viel geraucht wie ich. Genau, meint Ralph: was war da anderes zu erwarten – die Lunge ist kollabiert. Er hustete und spuckte schon Blut. Frank hat noch den Notarztwagen geholt. Eine Stunde später war er tot. – Ich bin erst mal bedient und drehe mir eine, weil auch mir ja schon lange nichts Besseres mehr einfällt. Setze mich auf eine Bank, blicke in die Baumwipfel, in denen der Wind mit dem Licht spielt. Einen Moment lang als Tagtraum blitzt mir das Gesicht von Franz auf, voll stillem Humor; dieses nur wie angedeutete Lächeln, tief eingegraben in zwei Mundwinkel, voll einer Lebenserfahrung, die nicht mal mit der Schulter mehr zuckt.

Eine Seite des Platzes entlang reihen sich jenseits der von Bäumen gesäumten Adolfstraße nostalgische, stuckverzierte Fassaden aus der Gründerzeit. Davor rattert gerade ein blutrotes Rennauto von Bugatti, teures Sammlerstück, Baujahr 1930, vorbei. Auch andere Spinner leben in ihren eingebildeten Vergangenheiten, so wie oft genug auch ich selbst. Gibt es sie denn überhaupt noch: Zukunft. Heutzutage wäre doch jede Utopie Nostalgie. Mutter Erde schürzt ihre Röcke und rollt davon, schneller als all ihre Kinder laufen können. Und sprechen eigentlich diese Pflastersteine von der Geduld der Erde oder von meiner Einsamkeit, wenn sie schweigen.

Ich tappe weiter – tack, tack, tack – an meinem Stock durch die Altstadt. Die beiden Jungs, die mir jetzt entgegenkommen, rasierte Stiernacken, harter Blick, machen im Vorübergehen knapp beiläufig klar, dass Abstandsregeln und Männerstolz sich nicht vertragen. Man weicht aus und tappt auf der Fahrbahn weiter. Zwei Frauen überholen mich und wuchten zwei plumpe Hintern an mir vorbei. Echt jetzt, schimpft die eine: Bonn ist einfach nur tote Hose! Ihre Partnerin pflichtet ihr bei. Ich auch nicht, denke ich; ziehe vorsichtshalber die Maske bis hoch über die Nase.

Wenn man die Heerstraße immer weiter läuft, über die Kölnstraße hinweg, weiter geradeaus durch das Rosental, eine jener zahllosen Baustellen entlang, in denen die Stadt Bonn ihr scheinbar wichtigstes Anliegen vorstellt, das wohl darin bestehen muss, die Bauwirtschaft zu alimentieren, über die Römerstraße und immer weiter geradeaus, zuletzt zunehmend abschüssig durch ein Sträßchen mit bunt bemalten Fassaden aus verschiedenen Zeiten einer längst vergangenen Kleinbürgeridylle, kommt man zum Rhein.

Ich setz mich an einen Biergartentisch unten vorm Schänzchen, schon damit man mir nicht nachsagen kann, ich hätte eine Chance ausgelassen. Oben, die Treppe hoch auf dem Schänzchen, kriegt man ein Bier – ein Weißbier für nur 4,50 € … man nimmt’s zur Kenntnis und reicht dem Keeper einen taufrischen, noch drucksteifen Geldschein an einer Ecke aus spitzen Fingern gestreckt hin zur Annahme. Legen Sie ihn bitte erst auf die Schale, sagt er, und nimmt ihn mit spitzen Fingern an der gegenüberliegenden Ecke wieder auf. Jetzt darf ich zwar zum ersten Mal an diesem trübsinnigen Sonntag lachen, aber natürlich nur verschmitzt und unter der Maske verschwiegen, denn Worte zu verlieren wäre witzlos. Geht man davon aus, was Corona mit den Gehirnen von Leuten anstellt, die es noch gar nicht haben, hat das Virus längst gesiegt. Ich flüchte die Treppe hinab an meinen Tisch.

Ich bin allein – alle anderen Tische sind leer; teils wegen Corona, teils weil die nötige Ruhe im Moment nicht aufkommen mag angesichts des Verkehrs und keinerlei Beschaulichkeit einlädt, ausgerechnet jetzt, zu einem Biergartenbesuch. Sonntagnachmittag. Zu Fuß unterwegs sind jetzt klischeegerecht, wie es sich gehört, etwas mehr als halb so viele Hunde wie Hundebesitzer, meist weiblichen, und Jogger, meist männlichen Geschlechts, zusammengenommen, die knapp in der Minderzahl sind. Familien dagegen immer auf Fahrrädern. Kleinkinder nie ohne standesgemäßen Roller oder Tretmobil. Doch dann schwebt, vielleicht einfach deshalb, weil kein Klischee ohne Ausnahme auskommt, vielleicht auch, weil die Schwerkraft im Moment, mit ihr vorübergehend, aufgehoben war, eine zwölfjährige Elfe aus einem Märchen vorbei, das einer erst schreiben müsste, der das Ziel dieser Schritte voraussähe, ins Trübe träumend wie von Erinnerung an eine frühere Welt, die es nie gegeben hat.

Dieses schlammbraun brackige, zum Drängen gezwungene, wie unwillig zwischen kompromisslos planparallelisierten Ufern Dahinströmende da ist der Rhein. Es gibt noch 2 Vögel. Gegenüber sticht der Kirchturm von Beuel vergeblich spitz in den Himmel, damit er blutet: wir wissen ja, wer an allem schuld ist. Trinken aus. Als ich aufbreche, ist auf einmal ein ganzer Schwarm Rabenkrähen über mir. Schweigend, in raschem Anflug, ihrer Sache sicher. Drehen ab.

Ich tappe zurück – tack, tack, tack – an meinem Stock in die Altstadt, lasse mich in der Heerstraße beim Café de Arte nieder und knabbere Marthas Waffeln mit Zucker und Zimt. Gegenüber die sprechende Nostalgie der Gründerzeitfassaden – Stuck und Ziegel, Häuser, die einen anschauten, wie Glucken auf dir hocken wollten, Heimat versprachen, nichts wussten vom Krieg und noch weniger von der nahenden Klimakatastrophe und davon, was es bedeuten würde, zu sterben in Zeiten von Corona. Irgendwann, denke ich, wird es das letzte Mal sein; aber hier hat man Zeit. Im Aufklaren des Wolkenhimmels jetzt ab und an ein Erinnern an den Sommer, der vorbei ist.

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