Selbst Willy Brandt habe in diesem Café verkehrt, sagt man; aber dafür gibt es keine Beweise. Tatsächlich ist es nicht leicht zu finden; im gleichzeitig weitläufigen und stellenweise auch enggestrickten Netz der von vornehmen Gründerzeitfassaden gesäumten Südstadtstraßen, gegenüber einer kleinen Postfiliale an einer von imposanten Kastanienbäumen überschatteten Ecke gelegen; man kommt nicht einfach so durch Zufall hier vorbei, sondern wohnt entweder in der Gegend, hat vielleicht gerade gegenüber ein Anliegen per Einschreiben erledigt, oder hatte einen anderen, mindestens ebenso wichtigen Grund, der einen für dieses Mal bewogen hatte, nach der Arbeit nicht gleich den Weg nach Hause einzuschlagen oder die Schritte wie gewohnt Richtung Altstadt zu lenken, wo das Leben praller ist und das Bier billiger, sondern in die verträumte Beschaulichkeit einer Illusion von bürgerlicher Idylle einzutauchen, die schon zwei Weltkriege und das Wirtschaftswunder überlebt hat und deren liebevoll gepflegtes Straßenpflaster voller viel zu unauffälliger, sogenannter Stolpersteine ist, die kaum einer bemerkt, und die Namen nennen wie Zuntz, Marx oder Juda sowie meistens das Jahr 1942 als Datum der Deportation nach Theresienstadt. Hier sind die Straßenbäume noch alt und voll Würde, die Vorgärten gepflegt und voll Hortensien, die Fassaden vornehm geziegelt oder strotzend gestuckt und voll eklektischer Details wie Erker, maurische Spitzbögen oder verdreht kannelierte Säulchen; und die Mieten sind im Vergleich zum Restbonner Durchschnitt erst vollends unerschwinglich. Es gibt in dieser Gegend weder türkische Friseure, die man in der Altstadt überall findet, noch auch nur einen Kiosk, wo man Tabak kaufen könnte. Jutta, die in der Altstadt wohnt und wegen ihrer Behinderung immer mit dem Auto unterwegs ist, hat mir deshalb welchen mitgebracht. Sie ist auch schon da, sitzt draußen und liest. Es braucht nicht viel Berührung, um etwas wie Zärtlichkeit in die Art zu legen, wie man sich grüßt. Ich bestelle statt Tee ein Pils und drehe mir erst mal eine. Wir reden meist über Themen aus der jüngeren griechischen Geschichte, aber Mikis Theodorakis war für sie vielleicht der erste wirkliche Held, der je in ihr vorkam, und ihr Ehemann Giorgios war ein Odysseus, der einst als griechischer Gaststudent in Bonn strandete und hier, anstatt Architektur zu studieren, erst zum Spieler wurde und dann zum Schriftsteller, nachdem er Jutta kennen und richtig Deutsch gelernt hatte. Im Juni ist er gestorben. Jutta hat jetzt die Zeit und allen Anlass, sich um ihren schmerzhaften Gesundheitszustand zu kümmern – sie kann kaum sitzen, geschweige denn gehen. Ich helfe ihr ein bisschen beim Schriftverkehr mit der Krankenkasse, gebe ihre Anträge gegenüber in der Postfiliale als Einschreiben auf.
Wir sind allesamt alte Leutchen – Jutta, ich und noch allerhand ältere Damen und Herren aus meinem literarischen Dunstkreis. Wenig später als diese Erinnerung, in der ich mich noch ab und zu im Café mit ihr treffe, war auch Jutta tot. Sie starb nur drei Monate nach ihrem Ehemann Giorgios und zwei Monate nach der Ahrtalkatastrophe – ausgerechnet am 11. September, einem Tag, der seit dem satanistischen Fanal der Twin Towers für die ganze Hoffnungslosigkeit dieser bis ins Seelenmark verfaulten, an religiöse Schizophrenie und paranoide Allmachtsphantasien verschwendeten Menschheitsgeschichte steht, im Krankenhaus. Drei schwere orthopädische Operationen unter Vollnarkose an Hüfte und Wirbelsäule innerhalb von weniger als zwei Wochen überlebt man in diesem Alter allenfalls theoretisch und Ärzten zufolge, die ja angeblich etwas von Theorie verstehen und das trotzdem guthießen. Wir wechseln die Zeitebene und das Café. Einige Tage vor ihrem Tod war ich noch als Autor im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe hier aufgetreten: unterm Dach der Seligen Witwe Zuntz, wie die einstmals führende Kaffeemarke auf dem deutschen Markt geheißen hatte, bevor die Nazis alle Juden enteigneten und zum Selbstmord oder zur Flucht nach England oder sie einsammelten und zum Abtransport trieben und der Hamburger Konkurrent Jacobs Kaffee die armselige Bonner Witwe schluckte und mit dem Ariernachweis bezahlte, befindet sich heute eine phantasie- und kunstvoll gestaltete äthiopische Kaffeerösterei, die sich abends zur Veranstaltung kleinerer literarischer oder musikalischer Events anbietet. Noch schwärzer als ihr hervorragender, selbstgebrannter Kaffee war allerdings meine Lyrik, die seit jeher voll Vorahnung, Tod und Ahrtalkatastrophe ist und nicht vergessen mag, was geschehen ist, und nicht übersehen will die Zeichen, die aufgestellt sind, seit ich im ausgebombten Kölner Stadtteil Ehrenfeld das Licht der Welt erblickte, das meinen Blick in Gestalt eines Himmels erwiderte, der einen durch ausgebrannte Dachstühle und leere Fensterhöhlen anschaute und wortlos blieb so wie mein Vater, der schwer genug arbeiten musste, ein gläubiger Katholik war – Weimarer Zentrum, also kein Nazi; der aber in seinem Leben nie widersprochen hat und nie etwas erklärte, nicht einmal von seinem Leben vor der braunen Hassseuche erzählte, so dass ich vom Krieg erst in der Schule erfuhr – das beredte Schweigen der Dinge spricht aus den Bildern meiner Lyrik und weiß mehr von ihm als ich selbst. Wenn ich eine der in Bonn – jedenfalls abseits von Poppelsdorfer Allee und Kaiserplatz und außerhalb der Südstadt, deren Gediegenheit die Welt einer aus Preußen zugewanderten, neuen protestantischen Oberschicht spiegelte – häufigen katholischen Kirchen betrete, begegne ich ihm. Es hat sich nichts verändert zwischen uns. Gottvater gibt nie Antwort. Es ist dein eigenes Wort, das Auskunft geben muss: das habe ich von meinem Vater gelernt, der sich nie mit mir unterhalten hat, aber Sonntags samt Familie in die Kirche ging. Ich hatte nicht vergessen, wie der Himmel gegenüber meinen Blick aus leeren Fensterhöhlen erwiderte und niemand ein Wort darüber verloren hatte, und glaubte dem Pfarrer, wenn er vom Himmel sprach, kein Wort. So wird man zum Dichter – Worte zu finden für das Abwesende, das in uns weiterlebt. So wie auch Jutta in mir weiterlebt und mich dazu bringt, weiter zu erzählen, leise und eindringlich, zu einer metaphorischen Tasse Tee in einem inneren Café Extro, wo die Zeit stehengeblieben ist.
Die Zeit läuft weiter, und wir wissen, was auf uns zukommt – wiederum rein theoretisch gesehen. Dass jeder für sich sterben muss, ist einem mindestens so bewusst wie der sich in immer neuen Katastrophen ankündigende Klimawandel, der uns alle betrifft. Nur vorstellen kann man sich beides nicht, auch nach eindeutiger Diagnose. Trotzdem bringt mich meine durch mein langsames Ersticken ausgelöste Schlaflosigkeit dazu, statt im Bett zu liegen und die Angst zu spüren, nachts vor meinem PC zu sitzen und mich mit dem Wort zu unterhalten, von dem ich nicht mehr, aber auch nicht weniger erfahren möchte als die Wahrheit. Ich versuche also auszusprechen, was im Blick des Himmels durch die stummen Bombenruinen meiner Kindheit gelegen hatte, auch wenn es lange genug gedauert hat, es zu begreifen. Die Wahrheit war und ist, dass der Krieg über allem herrscht und wir nicht erst seit heute in einer Welt voll Hunger, Epidemien und menschengemachter Katastrophen leben – und trotzdem, anstatt endlich gemeinsam anzupacken und an die Arbeit zu gehen, all unsere Wissenschaft und Ressourcen in Aufrüstung und die rasante Weiterentwicklung militärischer Technologien investiert haben, um als höchstem menschlichen Ziel der Herrschaft des Triebs über die Vernunft zu huldigen; was trotz aller theoretischer, meist ideologischer oder religiöser Ausreden nichts bedeutet als die stetige Verschärfung sozialer Ungerechtigkeiten, die Fortdauer auch menschenunwürdigster Klassenstrukturen und die einsichtsresistente Permanenz einer imperialistischen Kartografie von Macht- und Einflusszonen. Es scheint also sinnlos, dagegen anzuschreiben – es wird alles so weitergehen, und der Krieg als die Ultima Ratio wird weiter jede Lösung verhindern. Der Fortschritt besteht darin, dass wir jetzt „Soldat:innen“ sagen sollen, damit der Wahnsinn, wenn schon an sich im Auftrag sozialer Ungerechtigkeit, wenigstens gendergerecht marschiert. Der Fortschritt marschiert weiter, und insofern lässt sich die Katastrophe wohl nicht aufhalten, die nicht bloß eine Klimakatastrophe ist, sondern zutiefst und zuallererst eine menschliche. Wie sollte der Mensch Frieden mit der Natur machen, wenn er es nicht einmal mit sich selber fertigbringt?
Im Rückblick auf mein sich auf ein Ende zuspitzendes Leben sehe ich mich von frühester Kindheit an auf der ermüdlichen Suche nach einem Sinn. Als kränkliche Spätgeburt meiner mit nunmehr fünf Kindern und einer pflegebedürftigen, todkranken Schwester eher ärmlich als reichlich gesegneten, bemühten und nebenbei kunstbeflissenen Mutter, die ständig malte, töpferte und sogar einen wunderschönen Teppich mit jugendstilartigen Bildmotiven geknüpft hat, den ich aufbewahrt habe und immer noch nutze, fand ich mich bald in einer Art von Abseits, weil in den Augen meines urdeutschen Vaters der Mann an sich dem alten Ideal aus Eisen zu entsprechen hatte und ich stattdessen unsportlich war, wenn nicht schwächlich, als schüchtern galt und mich nicht zu wehren verstand. Man vermag sich als Kind einzuleben in seine Außenseiterrolle, wird sie aber nie ganz an sich akzeptieren, wenn das Leben über Schulhöfe weiterreist und der Kampf härter wird. Das hat mir von Beginn zu einem gespaltenen Verhältnis sowohl zu meiner Männerrolle als auch zur Religion und zu meiner Gesellschaft verholfen, wofür ich heute dankbar bin. Gerade das Wortemachen lernt man besser, wenn man es gewohnt ist, zu widersprechen. Den Sinn muss man offenbar selber machen, indem man ihn durch die Finger schlüpfen lässt und in die Tastatur. Dort verwandelt er sich in einen Nachmittag in der Südstadt, die mir in ihrer Aura von Gründerzeit und Jugendstil immer vorkommt wie ein Traum, in dem die Sehnsucht meiner Mutter nach einem gutbürgerlichen Leben wiederauferstanden ist, wie sie es sich vor dem großen Krieg vorgestellt haben muss. Ich sitze diesmal allein draußen vorm Zartbitter, unweit der äthiopischen Kaffeebrennerei unter dem Dach der Seligen Witwe, an der architektonisch vielleicht prachtvollsten Ecke dieses allenthalben wohlhabenden Viertels. Das Haus gegenüber mit der Gedenktafel für den chinesischen Musikwissenschaftler Wang Guangqi, der 1936 hier starb, sieht aus wie eine Wagner-Oper in Stuck. Geisterhände zupfen zarte Saiten deiner Nostalgie, wohin man blickt an dieser Kreuzung. Für härtere Seiten sorgt die sogenannte Realität, die in Eile ist, zugeparkt, voll wichtiger Smartphones und sterbender Bäume. Jutta ist jetzt in einer fernen Spezialklinik und auf dem Weg in die Operationssäle. Ich werde in ein paar Tagen mal wieder als Autor auftreten, schräg gegenüber, im Café Adot unterm Dach der Seligen Witwe. Kein Gedanke daran, dass es das letzte Mal sein könnte. Am Gartenzaun gegenüber wirbt ein durchnässtes blaues Plakat für den Bonner Stummfilmsommer. Irgendwann sind wir alle verstummt; der Film geht weiter, denke ich und blicke zum Himmel – zumindest dieses Lichtspiel, auch wenn keiner mehr zuschaut. Es ist anzunehmen, dass wir alle erstickt sein werden durch die Klimakatastrophe, wenn nicht ertrunken, bevor es zu Ende ist. Der Weltuntergang wird voraussichtlich ohne Publikum stattfinden. Der Kellner bringt jetzt Kaffee und Kuchen; stilvolles Gedeck. Das hätte wiederum meiner Mutter gefallen, die holländisches Kaffeegeschirr sammelte.
Es hatte zuviel geregnet in diesem Ahrtalkatastrophensommer. Auch heute ziehen wieder Wolken auf, wirken unentschlossen. Ziehen weiter. Das Licht, wenn die Sonne in den Baumkronen mit den Blättern spielt, macht mich immer instantan glücklich und muss vermutlich Gott im Himmel sein, der insofern grün wäre. Das erscheint mir irgendwie logisch. Ich werde schläfrig. In einer dicken weißen Wolke tut sich jetzt eine wolkig weiße Höhlung nach innen auf, in Form eines abwesenden Herzens; eine Art Tür, aus der ein weißes Wolkenhändchen winkt. Ich muss lachen, war kurz eingenickt, notiere: Ruinen am Himmel. Muss irgendwann nach Hause, zahle und ziehe langsam weiter, humpelnd an meinem Stock, am Poppelsdorfer Schlossweiher lang, wo heute wieder der Graureiher steht; und der Himmel ist wieder mit einem blauen Auge davongekommen, für diesmal, in einem Moment von poliertem Porzellan aus einem anderen Delft.
