Serenade mit Igel

Am Straßenrand nach Endenich nachts wieder Igel. Wenn man sich ihnen nähert, rollen sie sich nicht zusammen, sondern rascheln munter weiter im Gras zwischen faulenden Blättern unterm blühenden Unkraut eines schmiedeeisern umzäunten Vorgärtleins, über dem halbverschleiert von im Wind schaukelnden Birkenruten eine würdevolle Stilfassade von ansehnlichem Alter ihre ziemlich weitläufigen Ansichten von bürgerlicher Gediegenheit ausbreitet. Es folgt eine gepflegte Wohnanlage aus den Sechzigern, der Zeit des Provisoriums, als Bonn auch schon immer mehr gewesen war als eine junge Bundeshauptstadt. Sie steht komplex geschichtet in mehreren schräggestellten Langhäusern als schlichtes Sägezahnmuster mitten in der Wiese, aber die offene Mitte spiegelt sich in einem kleinen Park, wo nie jemand ist, außer vielleicht mal wieder dem Igel, der mich grüßt wie noch einen anderen alten, bemoosten Bekannten. „Lange nicht gesehen, Alter!“ kichert er und rülpst. Mümmelt an irgendwas, das nicht essbar aussieht. „Wie wär’s denn zur Abwechslung mit Pizza?“ schlage ich vor. „Kein Problem“, sagt er, „bring her!“ – „Also, du musst schon mitkommen“, widerspreche ich, „sonst esse ich sie alleine auf.“ Er sitzt jetzt aufrecht und mümmelt. „Was ist überhaupt Pizza?“ kichert er noch, schon in meiner weiten Jackentasche verstaut.

Im Restaurant in Endenich bestelle ich zweimal Pizza und zwei Bier. Dann setze ich den Igel vor mir auf den Tisch. Der Igel schaut sich um. Die Kellnerin fällt mit spitzem Schrei im Stehen in eine ohnmachtsähnliche Starre und starrt entsetzt abwechselnd meinen Freund und mich an und sich wie hilfesuchend um. Ich schaue abwechselnd den Igel und die Kellnerin an. Der Igel schaut abwechselnd die Kellnerin und mich an. Die Kellnerin schreit wieder, spitzer. Eine Dame am Nebentisch nimmt das Thema gekonnt auf, skandiert schrill ein hysterisches Lachen in den mittlerweile überall verstummten Raum und ruft „wie süß, holt die Polizei“. Endlich kommt der Besitzer. Der Besitzer ist sehr Italiener, stämmig untersetzt, hat Haare auf Brust und Stimme und ist schon ganz rot im Gesicht. „Cool bleiben, Alter“, sagt jetzt der Igel und knabbert am Tischtuch. „Cool soll ich bleiben“, versetzt der Besitzer und dröhnt, „wenn Sie mir langhaarige Typen wie den da“ – er zeigt mit behaartem Zeigewurstfinger auf mich – „ins Haus schleppen, der Leute wie Sie aus der Tasche zieht?“ – „Haben sie was gegen Igel?“ fragt jetzt beleidigt der Igel und igelt sich ein. Die Bedienung erwacht aus ihrer Starre, noch ganz klapprig um die Nase und auf den Beinen blass, und geht erst mal pinkeln. Ich bin mittlerweile ein bisschen nervös und zünde mir erst einmal eine Zigarette an. „Moment mal!“ – der rote Besitzer schwillt stark an und kreuzt die Arme betont langsam, ja fast feierlich über der Brust – „Hier ist Rauchen verboten! Sagen Sie maaal… ja, also, was sind Sie denn eigentlich für ein Typ… Sie… Sie sind ja… Sie sind ja wohl…“ – „Jawohl mein Herr, Sie haben mich wohl erkannt, vermute ich. Ich bin tatsächlich Takaharu Sirtaki, der achtfache und amtierende Weltmeister im Schattenboxen“, gebe ich versuchsweise zu, zwar ohne mir recht Hoffnung zu machen, ihn damit beeindrucken zu können. – „Wo bleibt die Pizza?!“ ließ sich hier dumpf der immer noch vorsichtshalber zusammengerollte Igel vernehmen – glücklicherweise, denn der Wirt drehte sich nun kurz in Richtung Küche, um seine mittlerweile bühnenreife Gemütsverfassung vorab erstmal in Form einer Serenade italienischer Flüche vom Feinsten zu Protokoll zu geben, wohl damit man sich dann über nichts mehr wundern sollte, was jetzt wahrscheinlich noch passieren würde. Ich wartete lieber nicht ab, was daraus folgte, sondern nutzte die momentane Verwirrung, um den Hut zu krallen und das Weite zu suchen. Der arme Igel blieb leider in der Eile in seiner pieksigen Kugelform zurück.

Ein Polizeiauto lärmt weit weg hinter mir vorbei, als ich die Tür zur Harmonie aufstoße. Hier, vorn am Säufertisch, kann ich rauchen, bin in Harmonie mit mir und mit der Endenicher Harmonie und mit Endenich. Jetzt, beim Rauchen, tut mir der geschwollene Wirt plötzlich leid. Falls er diese Geschichte wirklich den Bullen erzählen sollte, kriegt er eine Anzeige wegen Verarschung sogenannter Respektspersonen. Doch die gute Musik aus den Sechzigerjahren hellt meine Laune bald schon beträchtlich auf. War schon ein echtes Erlebnis, finde ich nun nachträglich, mal wieder zu zweit in ein richtiges Restaurant zu gehen, so mit weißem Damast auf allen Tischen und mit versilberten Kandelabern darauf und mit falschem Silberbesteck, und mit dem Silberblick des Monds im Sack nach dem gelungenen Einbruchdiebstahl und einem sonnigen Grinsen verzehre ich eine Frikadelle mit Fritten, während von jenseits der Theke Deep Purple im Basslautsprecher wummert.

Auf dem Heimweg stoppt plötzlich ein Streifenwagen neben mir. „Sie brauchen nicht zufällig einen Igel?“ fragt ein freundlicher Polizist. „Klar“, sage ich – „immer schon!“, und verstaue den Igel in der Jackentasche. „Danke, und gute Nacht, dann“ … „Und was ist noch überhaupt Pizza?“ kichert der Igel als wir alleine sind. Auf der Wiese setze ich ihn wieder ab. „Cooles Ristorante, Alter“, sagt er zum Abschied. „Das machen wir wieder!“

Mehr ist nicht zu sagen.

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