Sogar das Licht im Januar wirkt unentschieden. Irgendwann… Wenigstens kein Regen heute. Am Abendhimmel nach Westen hin träumen hier und da rosarote Wolkenränder, vermischt mit Flecken von verwaschenem Blau, vom Frühling. Und später dann im Weiherseck wird Marie Trübsal blasen; Jutta wie immer bald Migräne kriegen; Nahil lebt – ein Wunder; kann zwar kaum noch sprechen; Wolfgang ist schon bald eine Ewigkeit lang tot, Thomas jetzt noch nicht da; Johannes fehlt mir wieder; Cemil zapft mir noch ein Bier, und die weisen Aleviten sitzen wie immer an ihrem Ecktisch beisammen und sind mit dem Leben zufrieden. Es ist Freitagabend; nichts liegt an – der Tod leckt mir von unter dem Barhocker die Hand wie ein treuer Terrier, und Ada spült hinter der Theke die Gläser. Aus den Lautsprechern perlt Pink Floyd – Time. Das war der Moment: zwischen den Zeilen meines Notizbuches bleibt sie auf einmal stehen. Die Tonart bleibt offen. Die Gegenwart verschwimmt. Aus dem Off treten die Schatten an die Bühnenkante, um sich zu verneigen und Applaus entgegenzunehmen… Ewigkeit wird allenthalben knapp; aber wir sind jetzt auch nur ganz kurz, auf Wellen von Musik reisend, wieder in den Siebzigern – lange Haare sind angesagt; Drum Beats und Revolution liegen in der Luft; die Dividende wuchert; die Wirtschaft wächst. Man kann in Bonn zur Zeit nicht völlig vermeiden, gelegentlich politischen Stars wie Willy Brandt oder dem bayrischen Waffenhändler Franz-Josef Strauß und ranghohen Diplomaten aus aller Herrschaft Länder über den Weg zu laufen – halb Bonn spielt Hauptstadt. Wer selbst keine Einlagen hat, guckt zu. Unter den ersten Gastarbeitern des Bundeswirtschaftswunders kommt mein alter griechischer Freund Giorgos Krommidas nach Bonn, bald Juttas Ehemann und ein Spieler aus Passion, damit das Leben einen deutschen Dichter aus ihm machen wird; noch so ein Entwurzelter wie ich; und noch weiter zurück, nur wenige Jahre tiefer in unsere Vorzeit, versinkt auch die architektonische Kakophonie des Stadthauses gegenüber, um das alte Maargasseviertel wiederauferstehen zu lassen; der Krieg selbst wirft vergeblich ein paar Bomben ab; bis 1929 noch war täglich der feurige Elias dampfschnaubend durch die Vorgebirgstraße gestampft, um aus dem Vorgebirge Obst, Gemüse und Eier zum Markt zu schaffen – Endstation Friedrichstraße; und noch immer, bis ins Jahr 1974, prangte auf der jetzt vom Stadthaus verschandelten Ecke am Berliner Platz die bemalte Gründerzeitfassade der alten Feuerwache, auf der ein Engel im heroischen Strahlenkranz gegen Flammen kämpfte. – Ich ziehe von hier mit Emmi an der Hand, die mir heute auf meiner Reise in die Vergangenheit auf halbem Weg bis in die frühen Siebziger entgegengekommen ist, indem ich sie mir immer heftiger einbilde, weiter durch die Maxstraße in Richtung der Heerstraße, einem flammenden Sonnenuntergang entgegen, der schamrot ist vor dem was inzwischen geschehen ist. Auf Jupiter diskutieren die großen Wirbelstürme über die Existenz eines Horizonts und die Theorie mehrerer Welten: aber wie sonnenfern magst du dich damals gefühlt haben, sage ich zu Emmi. Ich liebe die Wärme deiner Hand, gibt sie endlich zur Antwort und verwandelt sich in einen goldenen Stift. Dann ist pötzlich für einen Moment wieder heute, und nur mein Notizbuch kennt die Wahrheit – ich mach die Augen auf und mach sie wieder zu. Und wir kehren mit Emmi zurück in die Unausweichlichkeit der Dreissiger Jahre – die Nazis sind an der Macht und haben das Pogrom zum Programm ausgerufen. Nach der Niederlage wird kaum noch jemand übrig sein, um darüber reden zu wollen; die letzten verbliebenen, vorläufig im leihweise beschlagnahmten Endenicher Kloster „Zur Ewigen Anbetung“ internierten Juden hatte man 1942 bezwecks ihrer endlichen Vernichtung nach Theresienstadt abtransportiert; der mit seinen 74 Jahren längst emeritierte jüdische Mathematikprofessor Felix Hausdorff hatte sich, aller Würde und aller Hoffnung beraubt, mit Schlaftabletten das Leben genommen, um Endenich und dem System zu entgehen, gemeinsam mit seiner Gattin und seiner Schwägerin – nachdem schon vier Jahre vorher sein nichtjüdischer Kollege, der Orientalist Paul Kahle, von der Universität zwangsbeurlaubt, im Westdeutschen Beobachter offiziell als Volksverräter angeprangert worden und endlich mit seiner ganzen Familie nach London geflohen war – seine fünf Söhne hatten vor der Reichskristallnacht noch befreundete Juden gewarnt, einigen von ihnen geholfen, ihre Habseligkeiten zu verstecken, und sein ältester Sohn Wilhelm, Student an der Fakultät für katholische Theologie, hatte zusammen mit seiner mutigen Mutter Marie am Morgen nach dem braunen Rummel der jüdischen Korsettmacherin Fräulein Emilie Goldstein beim Aufräumen ihres von ideologisch gesehen rassereinen nationalsozialistischen Untermenschen verwüsteten Ladens geholfen. Er wurde wegen seiner ganz „rassefremden, schwächlichen Sentimentalität“ umgehend der Universität verwiesen. Die Gestapo drohte mit KZ; man legte der Mutter Selbstmord nahe, um schlimmere Folgen für ihre ganze Familie zu verhindern. Vor Tante Emmies damaligem Laden in der Kaiserstraße 22 liegt heute noch nicht einmal ein Stolperstein; aber ihre angstvoll geweiteten Augen blicken dich einen Moment lang plötzlich durchs Fenster eines versiegelten Eisenbahnwaggons an, der in Richtung Osten geht; benommen taumele ich rückwärts, immer noch dem abseitigen Sog der Geschichte ausgesetzt, während die volltrunkene Zeit jetzt im Jugendstil um mich herum ein Tänzchen aufführt, vermutlich um mich mit Anklängen von Natürlichkeit zu foppen und um mich mit aufgestuckter Unschuldsmiene über ihre wahre Natur hinwegzutäuschen – vergeblich; es zieht weiter rückwärts; ich komme zu Fall, schlage hart auf. Jahrhundertwende.
Cemil hilft mir auf die Beine, zapft noch ein Bier. Du warst wohl mal wieder eingeschlafen, sagt Thomas: tu lieber nicht so viel saufen. Das war jetzt aber im Jugendstil, gebe ich zu bedenken. – Spät genug schon; offenbar. Thomas geht heim. Cemil möchte nun auch langsam den Laden zumachen. Ich bin schon wieder mal der letzte Gast. Was schreibst du da eigentlich ständig in dein Buch, fragt er. Ich zimmere mir eine Tür im Nichts, um mich vergeblich dagegen zu werfen, sage ich. Du bist ein Kauz, lacht Cemil; und was soll der Sinn sein? Dass man die Wand bemerken soll, entgegne ich. – Cemil fängt an die Theke, dann den Boden zu putzen, geht raus, lässt mich für den Moment allein. Ein feuchtfauliger Duft kommt aus dem Gully von der Straße, weil die Tür offensteht, umfängt mich wie der Moder der Zeiten, während in meinem Kopf noch einmal 70er-Musik wie vom Band läuft. Ausgerechnet jetzt aber öffnet sich noch einmal der Vorhang, und aus dem Nichts tritt ein gewisser Nietzsche in die Kneipe, ein Bonner Verbindungsstudent im Wichs aus dem Jahr 1863, der sich trotzdem nicht einmal mehr nur für die Sauferei, sondern auch schon für andere Formen von Philosophie und darunter vor allem für die finsteren Gedanken eines Schopenhauer interessiert. Er ist ein schräger Vogel, auch wenn mich der Wichs an die Nazis erinnert; wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Friedrich, rufe ich aus – ich dachte, Gott wäre tot!? Wäre nichts Neues, entgegnet er; das stört mich am wenigsten; aber warum sind bloß die Straßen von Bonn heute bei Nacht so tot? So blick- und atemlos vor Hast am Tag? Wozu rennen die Leute oder rasen auf Elektrorollern so blind durch ihre Stadt, am hellichten Tag nur quäkende Smartphones und fernere Anliegen vor Augen? – Weil die meisten von uns ihre innere Stimme ständig im Ohr haben – nur der Knopf im Ohr ist echt; das Gerücht vom Tage kommt nie zur Ruhe in solchen Köpfen. Wir haben uns in Netzen verfangen und jede Gegenwart und die letzte Tiefe stehlen lassen. Anstelle von Visionen gibt es heutzutage Apps, und die Ideen kommen aus der Werbung. Die Zeit hat sich umgedreht und lacht dir ins Gesicht – und alles Innen war allenfalls außen noch wahr gewesen, wenn überhaupt. Gott ist offenbar, muss man vermuten, nachdem ihn unter den Leichenbergen und der Asche von Auschwitz keiner mehr recht wiederzufinden vermochte, posthum auch noch als weltfremd in Verruf geraten: die Zeit wurde enteignet und ist uns ausgegangen. – Und wo ist er nun hin, in eurer neuen Zeit, fragt Nietzsche – mein „toller Mensch“?! – Ich stelle ihm Niemand vor, der noch hier ist. Wir stoßen an mit Niemand – Nietzsche und ich – zwei rote Amseln, flatternd im Nichts.
Die Schattenkarawane trottet mir voran auf dem Nachhauseweg, während verschwimmende Reflexionen im Schein nostalgischer Straßenlaternen dem frischpolierten Glanz wiederauferstandener alter Fassaden nachlauschen.
Da sind noch Pferdehaare im Stuck.

