Im Wartebereich

„Zentrales Warten“ steht auf dem Schild draußen neben der Tür. Ich sitze mit anderen Wartenden maskiert in der Menge und halte auf Abstand. Das ist einem ja nach zwei, drei Jahren Corona doch längst selbstverständlich … Es erscheint mir aber selbst an dieser Stelle eigentlich überflüssig, geht mir durch den Kopf, wie ich da sitze und warte, noch darauf hinzuweisen, dass uns Warten zentral ist. Selbst dann, wenn wir selbst gar nicht wissen, dass und worauf wir noch warten.

Natürlich bin ich nicht ohne Grund hier. Aber allzuviel Mut zu zeigen angesichts dessen, was auf uns zukommt im Krankenhaus und wohl unvermeidlich ist, erscheint mir gleichfalls überflüssig, nachdem mir eine Dame auf Krücken gerade draußen beim Rauchen erzählt hat, wie sie nach drei verpfuschten Hüftoperationen ein um vier Zentimeter kürzeres Bein hat, tagtäglich auf hochdosierte Schmerzmittel angewiesen ist, seit einem der Eingriffe mit einem therapieresistenten Pilz infiziert; und dass sie als nächstes in den Rollstuhl müsse. Und schlimmer: wie sie als Opfer für die Orthopädieabteilung der schwarze Pechvogel ist und mitleidlos aus dem System herausgedrängt wird; wie der Oberarzt nicht mehr ansprechbar ist und die Tür zuschlägt, damit möglichst kein Hahn mehr krähen soll nach dem, was nie passieren kann, weil es ja nicht passiert sein darf.

Ich schaue mich um im Wartebereich. Unter den Masken sind wir einander alle ähnlich geworden – mittlerweile schon fast Familie. Gegenüber auf dem großen Bildschirm läuft wie in einer Schule ein Tierfilm aus dem Zoo – Giraffen hinter Gittern. Der Mensch fühlt sich offenbar zum Wärter berufen – selbst wenn er selber gendert wie ein Papagei im Zirkus; oder wenn er uns über den Maskenrand hinweg scharf mustert und fachmännisch die hinreichende Bedeckung der Nase überprüft. Aus derselben, selber kaum oder nur unzureichend maskierten Distanzlosigkeit weisen wir uns gegenseitig auch auf den korrekten Sitz der Sprache weiter oben über der Nase hin. Wer allzu laut unter der Krise leidet oder die falschen Fragen stellt, statt nachzuplappern, was jeder weiß, kippt allzu leicht über den Rand der geschlossenen Flachwelt der Panik ins Bodenlose der Leere sozialer Ausgrenzung.

Es tritt unter Bedingungen der Pandemie überdeutlich zutage, wie einsam fast alle sind. Man weiß nicht – ist es Angst oder etwas Schlimmeres, was die Augen des jungen Mannes, der vor der Wand gegenüber sitzt, fast unsichtbar macht, selbst wenn er seine muskulösen Arme gerade mal nicht vor der Brust verschränkt, weil er auf sein Handy starrt. Ich sitze im Wartebereich und schaue mich um. Keiner schaut den anderen an. Worauf warten wir?

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