Ich war weiter nichts mehr gewesen als jene heimlichklamme Entzündung innerhalb der dünnen aber unüberwindlichen Wand zwischen mir und mir selbst und offenbar dazu gemacht, dem Druck erst nachzugeben, wenn das Aneurisma platzen würde.
In den unterirdischen Kanälen der Rückkehr leben ohnehin die Ratten, und die Spirale zieht dich in absteigender Folge fortschreitenden Verfalls tiefer und tiefer hinab in die bodenlose Tonne ewiger Wiederholungen, wo bloß noch die Trauer wohnt. Wenn du kannst, lass dir Flügel wachsen und flieh; oder finde Worte; Beschwörungen helfen nicht; sei Dichter: verrätsele dich – versuch immerhin uns vorzugaukeln, man könnte im Nichts aus nichts als Abwesenheiten eine Hütte zimmern zum Überwintern für den Rest der Zeit!
Auch dort wirst du nicht aufgehoben sein wie in der Endlichkeit, die voller Sehnsucht war und voll Erinnerung – als läge sie weit jenseits des grünen Horizonts rings um die geschäftige, graue Rehabilitationsklinik irgendwo in der Eifel nach der gelungenen Herzoperation. Wäre nicht wenigstens das Sterben ein Ausweg gewesen? Des Nachts begegnen uns die ständige Schlaflosigkeit mit Ängsten und Reue beladen und zwischendurch im Traum ein Delirium voller Selbsthass und Totenköpfe; und ein künstlicher Greifarm wächst mir aus der Stirn, greift über meinen Kopf hinweg und erfasst dich von hinten mit seiner Baggerklaue – nur wohin jetzt mit uns? Zu spät. Das Herz geflickt und zugenäht – die Tür ist zugeschlagen; und du wachst morgens auf, findest dich eingesperrt. Stehst auf, wenn der Zimmerservice klopft. Nimmst folgsam deine Pillen. Trottest wie jeden Morgen widerwillig zur allmorgendlichen Blutdruckkontrolle. Stehst lange Schlange am Fahrstuhl, lahmst, kommst wieder mal zu spät zu deiner Gymnastikstunde. Alles geht sonst wie im Behandlungsplan vorgesehen seinen ärztlich verordneten Gang. Das ist das Glück. Die Klappe ist vom Schwein gestohlen und fest genug eingenäht; das Herz hängt an seinem patentierten Plastikschlauch wie in der letzten Schlinge. So fühlt sich Schicksal an: neuerdings spüre ich es sogar wieder richtig schlagen; statt jenes in lang andauernden, zögerlichen Wellen wie regellos anbrandenden Schwellens im Aneurisma.
Marmagen liegt in der Nähe von Nirgendwo auf einem flachen Talrand – die serielle Betonschachtel wie von der Krankenkasse geprüft; und ganz tief in einem tief im nüchternheitstrunkenen Bierernst der Siebziger versunkenen tiefen Grauton, der von der Regelmäßigkeit länglicher Fensterscharten im Geiste noch vertieft wird. – Meine Erinnerung an die Siebziger sind allerdings nicht allesamt so rechtwinklig und geradlinig, sondern ziemlich zwiespältig. Da! Eine transsexuelle katholische Nonne pisst in einer irgendwo zwischen den allzu schnurgeraden Zeilen der von der Denkweise des Betons befallenen Bauweise kauernden Sprechweise gleich nebenan an eine Scheune mit lila Pappdach. Kaum abseitiger als jeder Gedanke an das eigene, einstweilen abseits liegengebliebene Leben. Jetzt, Ende März, findet sich auf der Dachterrasse zwar abgesehen von dem ständigen kalten Wind auch schon ab und zu wieder wenn auch in niedriger Dosierung Sonne. Man liest Krimis, Frauenromane, quasselt und ist immer wieder per Du oder spielt auf vierundsechzig angemalten Betonsteinplatten Bodenschach; und manche von uns rauchen trotzdem weiter; den ferneren Aussichten zum Trotz.
Der Blick in die fernere Weite ist durch die einigermaßen enge Tallage der Klinik begrenzt. Am Hügel rechts gegenüber auf langmähniger Weide zwei aufmunternde Pferde – als wenn doch irgendwo Freiheit läge?! Aber längs aller Ausfallstraßen in Richtung Welt wartet in den einfallslosen Vorgärten seelenloser moderner Einfamilienhäuser schon wieder der Palliativrhododendron rings um den nirgendwo angeleinten bissigen Innenhund eingezäunter Ansprüche. Dort wird wieder Alltag sein.
Wir werden weiterleben. Zwischendurch bringt man mich mit dem großen roten Krankenwagen ins Kreiskrankenhaus nach Mechernich, wo mir eine sanfte brünette Ärztin, während ich überlege, ob ich ihr nicht mindestens fast eine Liebeserklärung schulde, und nichts tun darf als stillhalten, mit zärtlicher Nadel von hinten durch den Rücken knapp über der Leber über zwei Liter Wasser aus der Lunge holt. Das erspart mir bis auf Weiteres immerhin die Sauerstoffmaske zum Atmen und ihr weitere auch literarisch vermutlich zweitklassige Geschichten. Wir werden also weiterleben und sind nicht ganz allein dabei. Mein Schachpartner, ein Ingenieur namens Dieter aus Köln, und ich trinken neuerdings abends in der Eifelstube im Erdgeschoss schon wieder ein Bier miteinander und spielen auf dem Schachbrett des Etablissements weiter oder glotzen TV. Er hat eine scheußliche Arterienoperation am Arm hinter sich und zeigt mir die roh vernarbenden Nähte. Mein Reißverschluss ist noch so ein martialischer Anblick; immer noch die Metallklammern.
Wir sollen also weiterleben, du der mir jetzt noch fremder ist denn je, und ich, der dich jetzt wieder sieht – im Traum. Der Termin zur Rückfahrt rückt näher. Wer wirst du geworden sein?! Der Bus, der mich zurückbringt, leert sich schnell, als wir Bonn erreichen. Die letzten Freunde steigen aus. Vorm Rheinischen Landesmuseum tollt mitten in einem ausgelassenen Fest auf der Straße ein knusprig gegrilltes, rosa lasiertes Ferkel ohne Kopf und Herz mit der Menge herum und um; und dann gibt der Busfahrer plötzlich Gas – was ist passiert – wo sind wir angelangt: jetzt ist auf einmal niemand mehr auf der Straße; du kennst nicht mal die Gegend mehr. Hier war man noch nie vorher gewesen. Der Bus holpert plötzlich, ohne erst zu verlangsamen, auf den Bordstein, rumpelt über Kopfsteinpflaster; bremst erst jetzt; biegt schräg ab durch die lange Zufahrt in einen stillen Hof; kommt zum Stehen. Der Fahrer öffnet die Türen; schaltet den Motor ab. Die Reise ist zu Ende. Ich gehe nach vorn, um zu fragen, wo man sei, stelle dabei fest, dass der Fahrersitz leer ist; finde mich allein und steige aus – schaue mich um…
Aus dem Haus tritt niemand. Du erkennst ihn sofort.
