RÜCKKEHR DER SCHLANGE

Sarkophagen nagen am morschen Holz seit Tagen
und bleiben hart wie Stein und Kant.

Der Kesselstein im Herzen schwitzt ein Grauen aus das älter ist als du.
Die Nachtbaumnatter frisst die Amseln und klettert auf die Masten.

Es kommt näher.

Beiläufig gesagt – unter uns:
Das bist du!

Irrwege

Im Blick über den Bauzaun Gebäude. An einer gebrechlichen Mauer aus morschem Backstein ein Graffiti – ein paar verlorene Buchstaben in Lila, Schwarz und Silber und ohne erkennbare Intention. Davor mit lässig herabhängenden Armen eine aus Hunderten von Händen voll weißer Kerzen blühende Kastanie. Neben ihr parkt protzig ein SUV, strotzend vor Potenz. Ansonsten wieder ohne erkennbare Intention. Es gibt auch wichtigere Fragen… scheißen eigentlich die Engel Guano, so ähnlich wie die Vögel im Baum, oder müssen echte Engel gar nicht kacken. Vom Turm einer nahen Kirche schlägt gerade wieder wichtig dröhnend die Stunde… hat denn die Sünde kein Gewissen. Und bin ich etwa das sprichwörtliche Kamel oder einfach mal wieder zu breit, um durch dein Nadelöhr zu passen? Ich muss pinkeln; stell mich noch kurz an den Baum. Wenn einen dabei Polizei oder Ordnungsamt erwischte, kostet das schmerzliche 35 €. Der Himmel schaut weg; zieht gelassen, wenn nicht fast schon erheitert, obwohl mit ein paar gekrausten Wölkchen hier und da, weiter. Nicht mal die Dürre nimmt Notiz. Es hat seit Wochen nicht geregnet.

Trockener zwar als jeder Klimawandel und fast noch als mein Humor hat das Kontaktverbot uns erwischt… Alleinsein schärft den Blick für allgemein verschwiegene Gemeinsamkeiten. Unter anderen Maskierten beobachten wir uns gegenseitig verstohlen dabei zu hamstern. Hunde übrigens missachten die Abstandsregel, wofür man als einsamer alter Mann dankbar sein muss. Nur die Vöglein und die Engel halten in aller Regel auf Distanz – mit Ausnahme einzig des Todesengels, der uns auf all unseren Wegen stets in knapper Reichweite auf Zehenspitzen folgt. Ich drehe mich längst nicht mehr nach ihm um – sollte sich das Virus eines Tages doch noch für meine vom Nikotin verrußten Lungenflügel interessieren, werde ich wohl voraussichtlich den Abflug machen, ein letztes Mal mit matten Lungenflügeln flatternd… Als Raucher hat man ja mit 68 Jahren gegen Corona angeblich kaum eine Chance. Höre jetzt auch lieber auf zu denken; dreh mir stattdessen eine, während ich an einer Bahnschranke auf den Zug warte. – Der Triebwagen des ICE, der einläuft, heute unter einer extra dicken Schmutzschicht: ob denn auch die Reinigungsabteilung der Bahn nur noch per Home Office arbeitet. In Gegenrichtung scheppert im Andante noch ein Güterzug vorbei.

Dann öffnet sich die Schranke. Ich humpele, nein: schlendere weiter, Richtung Uni. Im Hofgarten findet sich endlich eine freie Bank, auf die ich mich plumpsen lasse. Das ist im Moment fast so gut wie ein offenes Restaurant, als es noch welche gab. Packe mein Mittagessen aus: ein belegtes Brötchen aus dem Supermarkt; eine Flasche Bier. Nebenan plärrt aus einer Minibox sogenannte Musik – sämtliche Instrumente, sowieso alles Schlagwerk, vollsynthetisch, programmiert; der Gesang klingt wie binär aus dem Sequencer gezogen. Got your mojo working – bit by bit?! It just won’t work on me. No byte ever bit me. Gefühlsmäßig hatte diese Art von Musik die Kontaktsperre längst vorweggenommen, bevor das Corona-Virus kam und auf transkulturellen Wellen im Kopf die Regie übernahm. Ich zücke aus der linken, von ihm an sich längst schon radikal genug zerfetzten, löchrigen Jackentasche mein Büchlein, notiere: wir sind eine Gesellschaft selbstoptimierender Knotenpunkte, selbsteingesponnen, gefangen in unserem selbstgesponnen, globalen Netz: welcher Spinne dienen wir zum Fraß? – beiße wieder ein Stück vom Brötchen ab, kaue kopfschüttelnd, gönne mir einen Schluck aus der Flasche und füge hinzu: gibt es denn keine Freiheit vom Selbst?!

Ich schreibe diese Sätze zur Rezitation in einem leeren Mietsaal – nein, ich will euch nicht zu nahe kommen. Lieber nicht. Denn immerhin aus der Ferne kann es jeder hören: in all eurer hektischen Betriebsamkeit und dem Lärm und dem Getue um Corona wächst ein Schweigen wie ein Krebstumor – die Warnzeichen blinken vergebens. Der Neon-Gott gibt keine Antwort. Man hat die Wände der U-Bahn gescheuert und die Prophezeiungen entfernt. Kommt also meinetwegen alleine zurecht – ohne Leute wie mich, die ihrer Vision immer noch dienen müssen, ob sie wollen oder nicht. Still got my mojo working – even though it might not work on you. What can I do. Weiß nicht weiter. Schließe das Buch.

Das Sonnenlicht macht aus dem transluzenten Blätterdach der Linden über mir ein impressionistisches Getüpfel aus Erleuchtetem, Konturen und Einsprengseln von Blau. Da bist du wieder – ein Glücksgefühl wie ein Schock im Bewusstsein, das sich aufbäumt gegen die Leblosigkeit; ein Katarrh in den Gedankengängen der Hilflosigkeit, der Tage gebiert wie kindliche Fieberphantasien. Die künstliche Musik ist verstummt, der Minibox-Mann weitergeradelt. In der Stille ohne Umlaut knacksen die Gänsefüßchen, als wenn einer gefragt hätte, den außer mir keiner hörte: „wie wäre das zu verstehen, wenn etwas, was wesentlich wäre, immer nur im Konjunktiv existieren würde?“ Eine Rabenkrähe ächzt nachtschwarzen Verdacht: eine andere gibt ihr recht. Ein Elsternpaar schreitet zu zweit über die Wiese zur Tat. Zwei Ringeltauben verloben sich gurrend auf einem Ast im Baum nebenan. Niemand nimmt Notiz. Am Himmel heute nicht mal die unter anderen, sogenannten normalen Umständen unvermeidlichen Kondensstreifen im Blau. Ein Mann und eine Frau werfen sich gegenseitig eine in der Rotation flirrende, grell gemusterte Frisbeescheibe zu. Zwei kleine Mädchen haben ihre Mama heute ganz für sich allein. Eine Schar Butterblumen intoniert ganz am Rande wie im Chor aus tiefster Seele die Farbe Gelb. Eine nette alte Dame schiebt hinter ihrem Rollator her vorbei und schenkt mir ein echtes Lächeln. Vor ihr auf dem Gehwägelchen liegt ihre Tasche, aus der ein frischer, leuchtender Strauß, vermutlich vom Blumenstand um die Ecke vorm Hofgarten, emporragt; die duftigen Farbtöne von Rosen klingen noch lange aus der Entfernung ans Herz, als wenn es eine Nase besäße – wenn auch nur, oder bilde ich mir auch das wieder nur ein, für etwas, was uns selbstverständlich sein müsste, weil wesentlich, also normal, wären nur die Umstände jemals normal gewesen.

Dass ich die leere Bierflasche wie achtlos neben der Bank stehen lasse, ist heutzutage normal. Es laufen unter dem Stillschweigen des Generalverdachts als System genug Obdachlose und noch weit mehr kaum weniger Arme herum, die darauf angewiesen sind, sie einzusammeln. Ich humpele weiter, über den Kaiserplatz, am Münster vorbei, dann vorm Sterntor, kurz stehenbleibend, die nostalgiegeladene Szenerie bestaunend wie einen Scherenschnitt durch die Stilgeschichte, Richtung Altstadt.

Die Geschäfte sind wieder offen; man ist unterwegs. Anschauungsmaterial genug, um der im Brutkasten der Pandemie eher noch gewachsenen Hemdsärmeligkeit im Umgang miteinander auf der Straße wieder zu begegnen. Ein eilfertiger Radfahrer mit Rucksack-Box rast annähernd schnurstracks durch dich hindurch an mir vorbei, nur nach geradeaus schauend. Ich blicke in Gesichter, die um nichts offener wirken, wenn sie unmaskiert sind. Man möchte ihnen ohnehin lieber nicht zu nahe kommen. Der harte Blick, muss man sich sagen lassen, sei nicht direkt Drohung, sondern bloß Sache einer sogenannten „Männerehre“ – war sie es nicht auch gewesen, die aus drei halbgaren Bengeln des Nachts jene Horde krawallsuchender Primaten gemacht hatte, an die man sich unscharf erinnert. Frauen wirken in diesem Bild – ob selbstbewusst oder scheu am Rande, zu zweit unter Freundinnen oder allein oder mit dem Hund, mit ein, zwei oder mehr Taschen bepackt unterwegs, wie das Tüpfelchen auf dem „i“. Langhaarige Typen wie ich werden je nach kultureller Vorprägung mit männlicher Verachtung oder mehr oder weniger Misstrauen betrachtet. Allenfalls mein schwarzer Hut gilt bei vielen als cool, ungefähr so wie der bis fast in die Kniekehlen herunterhängende Hosenboden mancher jungen Männer. „Wer bist du – Gewinner oder Verlierer?“ steht fettgedruckt auf einem unsichtbaren Transparent, das über der Straßenszene aufgespannt ist. Echte Gewinner erkennt man oft schon an der völlig neugierdefreien Blicklosigkeit echter Arroganz. Echte Verlierer betteln – entweder, in tragisches Schweigen gehüllt, still auf dem Bordstein kniend, oder indem sie ihre Formel aufsagen: hätten Sie vielleicht ein bisschen Kleingeld für mich, damit ich mir was zu essen kaufen kann – oder dich anquatschen: haben Sie mal einen Augenblick Zeit?

Der Rest von uns will eilig weiter, hat im Moment Wichtigeres zu tun, balanciert auf dem Rand oder prügelt sich um die Ränge. Die wachsende Rechtsradikalität gehört insofern zum System wie das Schmieröl zum Motor oder das Testosteron zu unserer Selbstwahrnehmung als Mann. Und Männer werden wieder zu Tausenden und Abertausenden stramm und zu Millionen zur Verfügung stehen, die Hände an der Hosennaht, im nächsten und in jedem weiteren Krieg. Nichts hat sich verändert, seit es Geschichte gibt; Macht und Ohnmacht; den Staat und ihm gegenüber wie dem Ich zum Spiegel das Selbst; Gewinner und Verlierer; Kapitalkonzentration und Testosteron. Seit es sie gibt – diese Sehnsucht nach Freiheit im eigenen Herzen, die uns, wenn auch immer wieder vergeblich, um Worte ringen lässt.

Würde mich einer fragen – er rede wieder nur im Konjunktiv – was ich von meiner Zeit halte, müsste ich zur Antwort geben: sie ist offenbar am Asperger-Syndrom erkrankt. Selbstbezug ist die einzige Form von Bezug, die unterm Strich zählt. Und dieser Selbstbezug kommt nicht etwa von innen; er hat immer den Knopf im Ohr. Die innere Stimme trat von außen an uns heran. Erst wenn einer auf sein inneres Schweigen hörte, wäre er frei. Wie gesagt – ich antwortete ja bloß im Konjunktiv und bin froh, dass mich keiner gefragt hat als ein fernes inneres Schweigen. Denn wenn man weiterdächte, wären all die Netze, die wir gesponnen haben, das Werk eines zur globalen Riesenspinne erwachsenen Überselbst, das sich selbst endlich in den Griff seines prekären Überselbstbewusstseins bekommen müsste: gleichgeschaltet in allen Köpfen in Form zahlloser vereinzelter Ichs im Netz. Abgespeist mit einem binären Surrogat von Wirklichkeit, das unser Fühlen kontaktfrei lenkte.

Und darum blinken alle Warnschilder der Prophezeiung, seit es falsche Propheten gibt, zu Recht: Vorsicht! Jedes System erstarrt. Keine Freiheit lässt sich in Netzen fangen, kontaktfrei; als bloßer Konjunktiv. Wer sich richtig im Griff hat, erstickt. Auch ohne es zu bemerken und ohne Corona in der Lunge. Der Hirntod vollzieht sich schleichend im Fortgang. Kein Beatmungsgerät, kein binärer Code auf deinem Smartphone, kann echte Freiheit ersetzen. Freiheit vom Selbst: bloß eine Vision – ein später Kindertraum; eine Idee für Halberwachsene? Aber es liegt im Wesen jeder Idee, wirklich werden zu wollen. Freiheit vom Selbst muss und kann man sich nur selbst und für sich selber verschaffen; als ein Stückchen Freiheit mehr für alle.

WIR SIND NICHTS

als ein Geschwätz im Kopf, das vielsprachig widerhallt in den Straßen und nichts weiß, was je von Belang gewesen wäre, am wenigsten von sich selbst, und wieder nichts gehört haben wird als das jeweils jüngste Gerücht von der Welt, das in den Straßen widerhallt – eine geistige Leere im Prozess der virtuellen Selbstfindung, Sprachlosigkeit mit redseligen Smartphones; Taubheit mit dem Knopf im Ohr, damit man wenigstens so echt wirkt, wie die Werbung für echte Markenstofftiere verspricht. Geistige Flachweltbewohner allesamt, den Kopf voller Schubladen und ohne Bewusstsein der Enge des eigenen Horizonts. Da ist nur eine Welt; aber wir leben jeder für sich in unserer eigenen, von der wir uns nur ungern eingestehen, wie fremdbestimmt, wenn nicht -gesteuert sie ist, und wie illusionär und defizitär unsere Sinnkonstruktion, die unsere Ausrede ist vor Gott, wenn wir allein sind mit uns bei Nacht. Dann helfen nur noch die handelsüblichen Psychopharmaka und Drogen wie Alkohol. Gute Nacht!